„Findest du nicht, dass das eine ziemlich Gratwanderung ist?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Sebastian fand, dass Nils deutlich übertreibt. Sicher war es nicht vollkommen ungefährlich. Und legal war es schon gleich zwei Mal nicht. Aber es musste sein, seine ganze Zukunft hing davon ab. Hätte Sebastian bei der kommenden Klausur auch wieder versagt, wäre seine akademische Laufbahn schneller beendet gewesen, als er „Uni“ sagen könnte. Er musste alles daran setzen, das zu vermeiden. Nicht nur er selbst wäre damit alles andere als einverstanden gewesen, seine Eltern hätten jegliche Unterstützung sofort eingestellt; ihn wahrscheinlich auch sofort enterbt, wenn er nicht in die Kanzlei seines Vaters einsteigen könnte.
Sebastians Ausbildung kostete seinen Eltern sowieso schon viel Geld. Seit sechs Semestern studierte er bereits und hatte trotzdem noch nicht einmal alle Klausuren des zweiten Semesters geschrieben. Denn dazu müsste er lernen und bis auf die allererste Klausur – „Grundlagen des Rechts“ – hatte er diese Tätigkeit bisher aufs Äußerste vermieden. Spätestens, nachdem er im zweiten Semester den einen Jahr jüngeren Nils kennenlernte, war einiges aus den Fugen geraten; ganz besonders das Verhältnis zu seiner Ausbildung. Aber die Liebe zu Nils war einfach das Erste und Wichtigste, immer. Sebastian hatte gerne das Bild von Topf und Deckel vor Augen, wenn er an seine Beziehung dachte. Es passte einfach, sie ergänzten sich perfekt. Nils war das genaue Gegenteil von ihm: unauffällig, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, ein Aufsteiger, der hart für alles im Leben kämpfen musste und auch an der Uni nicht nachgelassen hatte. Sebastian war von Nils schon lange überholt worden – während der schon an seiner Bachelorarbeit war, musste Sebastian darüber nachdenken, wie er überhaupt an der Uni bleiben könnte. Aber Sebastian hatte nicht nur Beziehungen, große finanzielle Möglichkeiten und eine beinahe umheimliche Gabe, Räume zu erleuchten, er konnte auch sehr gut Menschen für sich vereinnahmen.
„Nils, der Plan steht“, sagte Sebastian.
„Das kommt nicht in Frage, Schatz! Das geht zu weit! Was ist, wenn sie dich erwischen? Das ist il-le-gal! Du studierst verdammt nochmal Jura! Wenn einer den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kennen sollte, dann ja wohl du, Sohn des großen und bedeutenden Herrn Superstar-Rechtsanwalts! Setz dich auf deinen fetten Hintern und lern‘, wie du noch nie im Leben gelernt hast!“ Nils redete sich geradezu in Rage, aber Sebastian ließ das kalt.
„Nils, Mäuschen, ich weiß das alles und ich weiß, dass ich es hätte anders lösen können. Aber wenn ich diese Klausur in den Sand setze, war’s das. Uni aus, Rauswurf, Exmatrikulation, kein Anwalt, keine Kanzlei, nichts. Und es ist zu spät, um den Stoff vom vorvorletzten Semester nachzuarbeiten.“
Nils seufzte. Ein Signal, das vom bevorstehenden Sieg dieser Diskussion kündete. Ach, könnte er seine Überzeugungsfähigkeiten und Menschenkenntnis doch ohne dieses beschissene Studium einsetzen!, dachte Sebastian.
„Es ist vollkommen ungefährlich. Ich muss nur an die Aufgaben der Klausur kommen und ich weiß, dass sie der Maußner wie alle Profs auf dem Prüfungsserver abgelegt hat. Ich habe mir sein Passwort besorgen lassen, das war nicht billig, aber ich habe es. Es lautet übrigens Michele91, super kreativ, wenn man weiß, dass seine Tochter Michèle 1991 geboren ist. Ich muss mich nur noch an einem beliebigen Computer einloggen und die Klausur runterladen. Und das mache ich jetzt.“
„Hmpf.“ Mehr kam nicht mehr von Nils.
Das Herunterladen der Klausur war ein Klacks. Das Passwort stimmte, die Prüfung lag genau da, wo Sebastian sie erwartete und der Datentransfer war nach wenigen Sekunden abgeschlossen. Schnell loggte er sich wieder aus, löschte alle Verläufe und Benutzerprotokolle, die sich auf dem Rechner befanden – alles genau so, wie man es ihm gesagt hatte. Die Aufgaben der Klausur waren nicht leicht, aber lösbar, ganz besonders mit seinem Vorsprung. Sebastian konnte nicht alles, was er früher zu lernen verpasst hatte, durch das Vorwissen ausgleichen; außerdem baute er absichtlich zwei kleine Fehler ein. Eine 4,0 als Note hätte vollkommen ausgereicht und er wollte nicht übertreiben, damit niemand misstrauisch wird. Als er etliche Wochen später seine Note erfuhr, war er dennoch überrascht. Mit einer 1,3 hatte Sebastian nicht gerechnet. Bei den schlechten Noten, die er im Laufe seines bisherigen Studiums gesammelt hatte, war nie etwas Besseres dabei als eine 2,0.
Er wollte es Nils erzählen, mit ihm anstoßen, einfach nur feiern. Ja, es war nicht die feine englische Art, aber es war eine Ausnahme und Sebastian nahm sich vor, nun endlich damit anzufangen, so zu studieren, wie es sich für einen Vertreter seiner Familie gehört. Die 1,3 war dafür ein guter Start und wenn er sich nun wirklich, wirklich reinhängte, könnte er vielleicht sogar einen Abschluss mit einer Eins vor dem Komma erhalten. Die Welt sah an diesem Nachmittag so rosig aus wie schon lange nicht mehr. Sebastian war euphorisch und konnte nicht erwarten, dass Nils ihn wie versprochen am Abend besuchen kommen würde.
Aber Nils kam nicht. Nicht an diesem Abend, nicht am Tag danach und auch später nicht mehr. Nils war wie vom Erdboden verschluckt. Er reagierte auf keine Nachrichten, Anrufe, er war nicht in seiner Studentenbude anzutreffen und auch seine Mitbewohner wussten nicht, wo er abgeblieben war.
„Er war ein Agent, ein Spion, von irgendeinem Land, von welchem war nicht zu erfahren“, erzählte mir Sebastian viele Jahre später. Er war mittlerweile in die Kanzlei seines Vaters eingestiegen und durchaus erfolgreich in seinem Beruf. „Ich hätte das nie gedacht. Nils! Deutscher als ein Schäferhund, der süßeste Typ, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, eine Seele von Mensch! Und ein Spion, der sich nur zur Tarnung an der Uni eingeschrieben hatte.“ Sebastian machte ein künstliche Pause. „Und weißt du, wie er aufgeflogen ist?“
Ich wusste es nicht. Wie auch? Spionage ist ein Thema, das man aus Romanen oder James-Bond-Filmen kennt, aber nicht aus der Wirklichkeit. Überhaupt, ein Spion mit Anfang Zwanzig – ich war nicht sicher, ob Sebastian mir einen Bären aufbinden wollte. Dennoch, seine Gestik, seine ganze Körperhaltung unterstrich seine Geschichte und Sebastian konnte man viel nachsagen, aber er hatte es nie nötig gehabt, zu lügen, dazu war er viel zu selbstbewusst.
„Erzähl!“, forderte ich Sebastian auf. Ich konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie Sebastian die Liebe seines Lebens verloren hatte.
„Sie sind verdächtigen Bewegungen auf dem Prüfungsserver nachgegangen. Irgendwie sind sie auf den Typen aufmerksam geworden, der mir das Passwort besorgt hat. Der ist irgendwann schwach geworden und hat denen geholfen, sozusagen als Kronzeuge, die Quelle des Einbruchs aufzudecken. Aber sie haben nicht mich gefunden, sondern Nils, denn ich habe seinen Laptop damals benutzt. Also sind sie zu Nils, haben den Laptop beschlagnahmt und ihn auch gleich mitgenommen. Auf dem Laptop war zwar keine Klausur, aber jede Menge viel brisanteres Material. Da haben sie dann rausgefunden, wer er wirklich ist. Nils – oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißt – wurde ausgewiesen oder gegen einen anderen Spion ausgetauscht, was weiß ich. Auf jeden Fall ist er nicht mehr in Deutschland, das weiß ich dank der Kontakte meines Vaters ganz sicher.“
„Das ist ja mal richtig scheiße gelaufen“, sagte ich. „Und du bist dabei nicht aufgeflogen?“
„Nein. Nils sagte damals, das Ganze wäre eine Gratwanderung. Er hatte damit mir recht, als ich dachte.“
Dieser Text entstand dank der gütigen Wortspende der Aktion *.txt. Weitere Texte zur Gratwanderung findet man dort.
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