Ich weiß nicht mehr, wo ich das gehört oder gelesen habe. Aber es gibt da so oder so ähnlich eine Geschichte von einem jungen Brasilianer, der zu einem Austauschsemester nach Deutschland kommt. Beim Anflug über Deutschland sieht er, dass die meisten Bäume kein Grün tragen, dass sie kahl sind. Er wundert sich: Sind nicht gerade die Deutschen so umweltbewusst? Sind es nicht gerade sie, die allen auf der Welt zeigen wollen, wie man effektiv die Umwelt schützt? Und das, obwohl sie es nicht einmal schaffen, ihre eigenen Bäume blühen zu lassen? Erst später erfuhr er, dass Bäume im kalten Deutschland im Herbst ihre Blätter abwerfen, um im Frühling wieder neu zu erblühen.
Der junge Brasilianer, der noch vorher nie außerhalb seiner Klimazone war, konnte die Situation, die er vorfand, nur auf der mangelhaften Grundlage seiner Erfahrungen beurteilen. Das ist kein Vorwurf, denn das geht uns allen so. Vielleicht wissen wir hier, warum Bäume im Winter kahl sind. Aber wissen wir, was das Higgs-Boson ist? Nein, wir ahnen es allerhöchstens. Dennoch sollte aufgrund der jüngsten – sehr wahrscheinlichen – Entdeckung des Higgs-Teilchens jedem einigermaßen Interessierten klar sein, welch Jahrhundertentdeckung dies ist.
Im Spiegel Nr. 28/2012 gab es anlässlich der Higgs-Boson-Entdeckung eine sehr lange Titelgeschichte, die zu einer der besseren zählen dürfte. In einfachen Worten wurde darin erklärt, was das Teilchen ist, warum seine Entdeckung so wichtig ist und vor allem, dass die Forschung damit gerade einmal eine Basis geschaffen hat. Mit dem Nachweis des Higgs-Bosons wurde die theoretische Grundlage praktisch bestätigt. Wir – und damit meine ich auch: die Physiker – haben aber keinen blassen Schimmer, was danach kommt. Was das alles bedeutet.
Und damit zurück zum Menschen mit seinem eingeschränkten Erfahrungshintergrund. Die Leserbriefe in der auf die Titelgeschichte folgende Spiegel-Ausgabe Nr. 29/2012 sind deutlich:
Na toll, da werden Milliarden für Technik und hochbezahlte Forscher ausgegeben, um theoretische Partikel zu suchen. (…) Helfen diese Milliarden, die Welt besser zu machen, Klimaveränderungen zu beeinflussen, die Wirtschaft zu stabilisieren, den Hunger und die Armut zu bekämpfen? Was bringt den Menschen diese Entdeckung?
— Hendrik H., Tinizara, La Palma
Dieser für Laien schwer verständliche Artikel gibt doch immerhin einen Einblick in einen Wissenschaftszweig, der meines Erachtens mehr als überflüssig ist.
— Rolf Sch., Weinsberg
Auch Banker haben eine Milliarden verbrannt und damit nur eine bestehende Theorie bestätigt.
— Holger H., Saarbrücken
Wer sich nie mit theoretischer Physik beschäftigt hat, wer keinen Zugang zu diesem Themenkomplex hat – und woher sollte man, in der Schule hörte der Unterricht noch zu meiner Zeit bei den Atomen auf –, der kann den Wald vor lauter kahlen Bäume nicht entdecken. Irgendein Teilchen wurde da unter Aufwand von Milliarden von Euro eventuell entdeckt. Aber welchen Einfluss hat das auf mein tägliches Leben, die Ungerechtigkeit in der Welt?
Es ist schwer, den Sinn hinter diesen und anderen Forschungsdisziplinen zu entdecken. Ähnliche Diskussionen gibt es auch immer wieder bei der Weltraumforschung. Vielleicht sollte man aber mal einen Schritt zurücktreten und darauf warten, darauf vertrauen, dass es irgendwann einen Sinn ergibt. Menschen forschen, seit sie aufrecht gehen können. Nicht immer hat man sofort den Sinn gesehen. (Die Spiegel-Leserbriefe nach der Entdeckung des Feuers hätte ich gerne gelesen: „Vernichtet nur Holz!“ „Was da alles aus Versehen verbrennen kann!“ „Denkt denn keiner an die Kinder!?“) Aber Forschung ist immer die Grundlage für weitere Forschung. Sie brachte uns dorthin, wo wir heute sind. Und wir sind noch sehr, sehr am Anfang.
Manchmal muss man einfach akzeptieren, dass es mehr kostet, als eine Nachfrage bei Einheimischen, um das zu erklären, was man nicht versteht. Und noch viel öfter muss man akzeptieren, dass man nicht alles verstehen kann.
[...] ehrlich: Ich habe kaum etwas verstanden. Der Titel hat mich gereizt, ich bin Higgs-Fan, bin beruflich mit Big Data verbunden und habe keine Ahnung von Teilchenphysik, hätte [...]
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