Wohin? War­um? Und wozu?

Nina stellt sich vie­le Fra­gen, wäh­rend sie am Land­wehr­ka­nal ent­lang­schlen­dert. Es geht ihr gar nicht dar­um, wohin sie der Weg heu­te und jetzt führt, über wel­che Brü­cke sie gehen soll oder ob sie nicht ein­fach jetzt oder spä­ter wie­der umkeh­ren muss. Sie fragt sich, wie das pas­sie­ren konn­te. Das, was sie ihr Leben nennt und gera­de eine mäch­ti­ge Zäsur erlebt.

Seit fast zwei Jah­ren lebt Nina jetzt in Ber­lin. Des Jobs wegen, denn eigent­lich stammt sie aus einem klei­nen Dorf in Nord­hes­sen, ging dort zur Schu­le und genoss ein ange­neh­mes, unge­stör­tes Leben eines Kin­des der obe­ren Mit­tel­schicht. Ihr fehl­te es an nichts, ihr wur­de aber auch nichts geschenkt. Für das Stu­di­um der Sozio­lo­gie ver­schlug es sie dann nach Trier. Sie muss­te kell­nern und Men­schen in der Fuß­gän­ger­zo­ne für Pro­mo­ti­ons anquat­schen, um sich den Lebens­un­ter­halt erlau­ben zu kön­nen. Aber es war nie schlimm, es war alles Teil einer gera­de Linie, die sie schließ­lich nach einem sehr guten Uni­ver­si­täts­ab­schluss in die Düs­sel­dor­fer Agen­tur ver­schlug. Nach einem sechs­mo­na­ti­gen Prak­ti­kum wuss­te sie, wie die Pra­xis aus­sieht und ihr war klar, dass sie nicht mehr in einer Agen­tur arbei­ten möch­te. Fokus auf ein The­ma, lang­fris­ti­ge Stra­te­gien und Zie­le, das war ihr Ding.

Nina wur­de Teil des Mar­ke­ting­teams eines gro­ßen Unter­neh­mens in Ham­burg, zustän­dig für die soge­nann­ten neu­en Medi­en. Sie mel­de­te sich bei Face­book an, bei Twit­ter und natür­lich auch bei Insta­gram. Sie nahm an Bran­chen­tref­fen teil und ging auf in der Sze­ne. Social Media, das war ihr Ding. Sie war das Gesicht ihres Arbeit­ge­bers in den sozia­len Medi­en und eine gern gese­he­ne Ansprech­part­ne­rin für Jour­na­lis­ten und Pres­se. Nina ver­schmolz mit ihrem Job, sie kann­te kei­nen Unter­schie­de mehr zwi­schen Privat- und Berufs­le­ben und ver­nach­läs­sig­te bei all den Abend- und Wochen­end­ter­mi­nen vor allem Ersteres.

Dann, nach drei Jah­ren im Unter­neh­men, kam das Ange­bot aus Ber­lin. Einer ihrer tau­sen­den Fol­lower und flüch­ti­gen Bekann­ten hat­te ein paar Mona­te zuvor ein Start­up aus der Tau­fe geho­ben und expan­dier­te wie wild. Felix such­te drin­gend eine Team­lei­te­rin für die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­maß­nah­men, was laut ihm bei einem Start­up neben dem eigent­li­chen Pro­dukt so ziem­lich das Wich­tigs­te sei. Geschäfts­grund­la­ge war eine App, die irgend­was konn­te, so rich­tig wuss­te wahr­schein­lich nie jemand, was genau. Felix lock­te Nina mit viel Geld nach Ber­lin, aber das war ihr gar nicht so wich­tig. Viel inter­es­san­ter war die Mög­lich­keit, noch ein­mal durch­star­ten zu kön­nen, noch ein­mal etwas Neu­es anzu­pa­cken bevor sie drei­ßig wäre. Über­haupt war es die Chan­ce, durch eine neue Stadt, eine neue Bran­che und ein neu­es Auf­ga­ben­ge­biet einen Schritt zu machen, der nicht mehr so schnur­ge­ra­de auf ihrer bis­he­ri­gen Lebens­li­nie lag.

Die ers­ten Tage in Ber­lin waren auf­re­gend und inspi­rie­rend. Nina hat­te ein Büro mit Kicker erwar­tet, aber nicht damit gerech­net dass er das klas­sischs­te Möbel­stück in die­ser alten Fabrik­hal­le sein soll­te. Es war alles so anders, so sehr viel anders, als sie erwar­tet hät­te. Das galt erst recht für ihr Auf­ga­ben­ge­biet. Es gab schlicht nichts. Das Start­up bestand aus etwa zwan­zig Pro­gram­mie­rern, die sich alle den gan­zen Tag auf Eng­lisch unter­hiel­ten, obwohl die meis­ten aus Deutsch­land kamen. Dane­ben gab es Felix und sei­nen Co-Gründer Paul, ein paar wei­te­re Ange­stell­te, die sich um Sekre­ta­ri­at, Buch­hal­tung und ande­re Ver­wal­tungs­din­ge küm­mer­ten und Ninas Team, ein Hau­fen wild zusam­men­ge­wür­fel­ter Insel­spe­zia­lis­ten aus der gan­zen Repu­blik, die alle am glei­chen Tag zum ers­ten Mal das Büro­ge­bäu­de betre­ten hatten.

Nina fuchs­te sich rein, arbei­te­te här­ter als je zuvor. Sie schaff­te Zustän­dig­kei­ten und Auf­ga­ben­ge­bie­te und ver­such­te neben­bei zu ver­ste­hen, was sie da eigent­lich bewarb. Ihr gelang inner­halb weni­ger Mona­te, wofür sie beim vor­he­ri­gen Unter­neh­men Jah­re benö­tig­te: Sie war das Gesicht des Start­ups. Sie war so erfolg­reich, dass nie­mand frag­te, was sie da eigent­lich genau mach­ten. Es reich­te, wenn Nina mit ihrem rück­sichts­volls­ten Lächeln die vor­be­rei­te­ten Schlag­wor­te streu­te und von unge­heu­ren Poten­tia­len und dis­rup­ti­ven Tech­no­lo­gien sprach.

So viel Frei­hei­ten, wie Felix ihr bei ihren Tätig­kei­ten ließ, so eng waren sie pri­vat. Schon schnell merk­te Nina, dass es nicht nur die beruf­li­che Her­aus­for­de­rung war, die sie in ihrem neu­en Leben begeis­ter­te. Es war auch Felix, den sie jeden Tag mehr moch­te, bis es eines Abends beim Fei­er­abend­bier in sei­ner Woh­nung pas­sier­te. Die wenigs­ten Kol­le­gen wuss­ten von ihrer Bezie­hung und das war bei­den auch recht. Bier sei Bier und Schnaps sei Schnaps und man müs­se schon klar Beruf und Pri­vat­le­ben von­ein­an­der tren­nen, sag­te Felix ger­ne, wor­auf Nina immer schal­lend zu lachen begann, weil er genau­so gut wie sie wuss­te, wie all­um­fas­send die­se Fir­ma war und wie wenig man ihr ent­kom­men konn­te. Auch nicht nachts, wenn sie sich anein­an­der kuschel­ten und zärt­lich über die neue Mar­ke­ting­plä­ne redeten.

Das The­ma gemein­sa­me Woh­nung kam auf und schnell war klar, dass Nina aus ihrer sowie­so nur als Über­gangs­lö­sung gedach­ten Mini­woh­nung zu Felix ins geräu­mi­ge Loft zog. Bis zuletzt waren eini­ge Kar­tons nicht aus­ge­packt gewe­sen, weil Nina ein­fach nicht dazu kam. So eine schö­ne Woh­nung, dach­te sie oft, und so wenig Zeit, sie zu genie­ßen. Es wür­de bestimmt anders wer­den, jeden­falls war das Ninas Hoff­nung, wenn sich das Start­up erst ein­mal eta­bliert hät­te und es nicht mehr dar­auf ankam, jeden Tag eine Schlag­zei­le zu pro­du­zie­ren. Viel­leicht hät­te das mit Felix sogar eine rich­tig glück­li­che klei­ne Fami­lie wer­den kön­nen, mit Kin­dern und allem. Viel­leicht auch gar nicht in Ber­lin, was weiß man schon.

Die Optio­nen stan­den sperr­an­gel­weit offen und es scha­de­te sicher­lich auch nicht, wenn man fle­xi­bel blie­be. Ins­be­son­de­re als Mit­ar­bei­te­rin eines Start­ups muss­te man stän­dig mit dem Schlimms­ten rech­nen. Auch, wenn man mit dem Geschäfts­füh­rer schläft. Viel­leicht sogar beson­ders dann. Nina war Rea­lis­tin genug, um sich nicht nur die rosa Sze­na­ri­en aus­zu­ma­len. Von Insolvenz-und-Vertreibung bis Glücklich-bis-ans-Lebensende waren alle Optio­nen denk­bar. So, wie Nina ihre Kam­pa­gnen plan­te, so zeich­ne­te sie auch ihr Leben vor. Schon immer. Nur waren jetzt in Ber­lin die Optio­nen viel­fäl­ti­ger und ungewisser.

Es war den­noch nicht damit zu rech­nen, dass auf ein­mal Geschrei in den Gän­gen zu hören ist. Über­rasch­te, ängst­li­che Schreie und auf ein­mal die­se fürch­ter­li­chen Schüs­se. Nina war schnell klar, dass sie in gro­ßer Gefahr war. Auto­ma­tisch sprang ihr Pla­nungs­mo­dul an, sie ging die Mög­lich­kei­ten durch und ent­schied sich dann für die wirt­schaft­lichs­te, bes­ser gesagt: lebens­ret­tends­te Maß­nah­me, näm­lich der Sprung durch das Fens­ter. Zwei­ter Stock, Gebüsch, das sind höchs­tens ein paar Kno­chen­brü­che und Schürf­wun­den, ich wer­de aber wei­ter­le­ben. Nina hat­te recht.

Die Auf­ar­bei­tung des Gesche­hens dau­ert an. Zahl­rei­che Befra­gun­gen der Poli­zei lie­gen hin­ter Nina, aber einen kann sie nicht mehr fra­gen. Ob und wie sehr Felix dafür ver­ant­wort­lich war, dass eine Trup­pe schwer bewaff­ne­ter Men­schen zeit­gleich das Büro und ihre gemein­sa­me Woh­nung stürm­ten, alles nie­der­schos­sen, was sich ihnen in den Weg stell­te und schließ­lich eis­kalt Felix hin­rich­te­ten – Nina wird nie­mals voll­kom­me­ne Gewiss­heit erlangen.

Der Weg geht auf jeden Fall wei­ter. Gera­de­aus. Es macht ja doch kei­nen Sinn, umzukehren.

Die­ser Text ent­stand dank der güti­gen Wort­spen­de der Akti­on *.txt. Wei­te­re abgrund­tie­fe Tex­te fin­det man dort.

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