Die Geschichte zum Bild
Manchmal laufen mir Dinge über den Weg. Oder liegen da herum. Und ich frage mich kurz „Dafuq?“, bevor sich vor meinem Bild die Geschichte dazu manifestiert. Die Geschichte zum Bild ist eine unregelmäßige Serie, die heute ihren Anfang nimmt.
Das zweite Semester BWL hat es in sich. Buchführung, Volkswirtschaft, Mathe – Timo dachte, es würde lustiger werden, als er die kleine Stadt im Westerwald verließ, um in der großen, aufregenden Metropole Köln zu studieren. Aber zurzeit wuchs ihm alles ein wenig über den Kopf.
Bank an Rohstoffe? Rohstoffe an Bank? Wie war das nochmal, was hat die Professorin erzählt? Timo war nicht ganz bei der Sache. Die Geschichte mit Svenja trieb ihn um. Sie hatten sich letzten Freitag im Ding kennengelernt. Matze, Andi und Timo hatten eigentlich gar keinen Bock auf diese ranzige Studentendisse, aber Svenjas Freundin, die mit Andi zusammen war, wollte sich unbedingt mit ihnen dort treffen. Man könne ja später immer noch die Location wechseln, bis Mitternacht solle man aber bitteschön berücksichtigen, dass nicht alle so privilegiert seien, für normale Studierende sei das Ein-Euro-ein-Getränk-Angebot unabdingbar für einen angenehmen Freitagabend. Wenn um Mitternacht die Geburtstage durchgesagt werden, bin ich raus, dachte Timo. Er war zwar selbst erst dreiundzwanzig, ihm schauderte aber jedes Mal, wenn er die Glückwünsche zum neunzehnten, zwanzigsten, einundzwanzigsten Geburtstag hörte, nie war jemand älter als einundzwanzig, aber vielleicht lag das auch daran, dass niemand mehr im voll straffähigen Alter seinen Geburtstag im Ding feiern mochte.
An diesem Abend aber war es gut. Svenja studierte nicht wie Timo an der FH, sondern an der Uni in Bonn. VWL. Jeder kann sich ja mal irren. War aber an diesem Abend sowieso egal. Svenja sah genial aus, sie war fast genauso groß wie Timo, hatte lange blonde, leicht ins rötlich abdriftende Haare, die von einem Mittelscheitel geteilt wurden, hohe Wangenknochen, ein Lächeln wie Engel und so grüne Augen, dass selbst jemand aus dem Westerwald staunte. Svenja kam aus dem Norden, irgendwo bei Kiel, sie sagte Timo einen Ort, aber er hatte davon noch nie gehört und überhaupt, wie ihre Augenbrauen leicht wackelten, wenn sie redete, er war hin und weg.
Der Abend ging lang und natürlich wechselten sie nicht mehr die Location. Auch nach Mitternacht bietet Das Ding unschlagbare Getränkepreise und wenn jeder mal einen ausgibt – es lebe die betrunkene Logik! –, dann kommt man zum Studententarif auf Touren. Svenja hielt sich nicht sichtbar zurück, dennoch war sich Timo sicher, einen deutlichen Vorsprung bei den Getränken zu haben. Je heller es draußen wurde, desto distanzierter wurde Svenja. Timo war sich nicht mehr sicher, ob er dumme Dinge sagte, dumme Dinge tat oder ob Svenja einfach nur gemerkt hatte, dass er nicht interessant genug war, um weitere Lebenszeit zu verschwenden.
Timo musste raus. Er konnte nicht an Buchungssätze denken, nicht in diesem Ambiente. Neben der FH ist der Römerpark, dachte er, da finde ich vielleicht ein schönes Plätzchen. Er schnappte sich den Wöhe, dieses dicke, schwere BWL-Standardwerk, klemmte einen Kuli an seinen College-Block und das Ganze unter den Arm und ging die Treppen runter.
Bis zum Park waren es keine zwei Minuten. Leer war es dort und als Timo sich mitten in die Wiese setze, merkte er auch, wieso. Es hatte wohl kurz vorher noch geregnet. Verärgert stand Timo wieder auf. Die ganze Hose war nass, das war nicht eingeplant. Waschtag war erst in zwei Tagen, das war unverschiebbar, er traf sich jeden Dienstag mit Matze im Waschsalon. Obwohl, wozu waschen, dachte sich der praktisch veranlagte Student, es ist warm, es ist niemand in der Nähe, ich lege die Hose mal kurz in die Sonne, die sich da gerade wieder am Himmel zeigt, hier, genau auf diesen Stein da, neben die Flasche, die ein Penner zurückgelassen hat. Vielleicht gibt’s darauf ja noch Pfand, damit kann ich mir schon wieder ein halbes Kölsch im Ding leisten. Lustig, genau diese Hose hatte ich letzten Freitag an. Als ich Svenja traf. Über Bonn haben wir geredet und warum sie sich trotzdem lieber in Köln aufhält. Es gibt doch in Bonn ganz gute Kneipen, entgegnete ich ihr und sie verneinte das nicht, sagte aber etwas von Freunden, Großstadt und irgendetwas, ich war zu beschäftigt, ihr auf die Lippen zu starren. Diese perfekt geschwungenen Lippen, die weißen Zähne dahinter, die in Reih und Glied standen. Bestimmt geht Svenja zweimal im Jahr zum Zahnarzt und der sagt jedes Mal, es sei alles in Ordnung, eigentlich würde es doch auch ausreichen, wenn sie nur einmal pro Jahr käme, so gut, wie ihre Zähne seien, und sie sagt darauf mit ihrem nordisch klingenden Akzent, es wäre schon gut, sie wolle doch alles richtig machen. Und dann sitzt sie im Ding und trinkt Wodka-O für einen Euro, den mindestens dritten schon. Warum unterhält sie sich denn überhaupt so lange mit mir, wenn ich sie so langweile? Ich hätte mir Matze schnappen können, wir wären noch in den Venuskeller gegangen, ab vier Uhr kommt man da für gewöhnlich umsonst rein und kann noch Reste vorfinden. Gut, man sollte um diese Uhrzeit keine Ansprüche mehr stellen, was soll’s, ich bin doch noch jung, da darf man auch mal Fehler machen. Hoffentlich denkt Svenja nicht, dass der Freitagabend ein Fehler war. Warum habe ich ihr eigentlich nicht meine Handynummer gegeben? Ziemlich dumme Idee, ich muss jetzt Andis Freundin anhauen, ich weiß doch nicht einmal ihren Namen. Sind die beiden überhaupt richtig zusammen?
Als Timo gerade die Haustür aufschließen wollte, kam ihm Frau Dirner aus dem Erdgeschoss entgegen. „Warum laufen Sie denn ohne Hose herum?“ fragte sie ihn.