Marie

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Katze

Als ich in die Woh­nung kam von die­sem Paar, deren Kat­ze aus Ver­se­hen schwan­ger gewor­den war, hüpf­ten eini­ge klei­ne Kätz­chen wild auf dem Kratz­baum rum, wäh­rend ihre Mut­ter sie kri­tisch beäug­te. Nur eine woll­te da nicht mit­ma­chen. Sie saß neben­an im Wohn­zim­mer, mit­ten im Raum, ganz herr­schaft­lich mit ihren gro­ßen Augen und mach­te ein­mal kurz „Miau“. Da war es um mich gesche­hen. Es war mir in die­ser Sekun­de klar: Das ist die Kat­ze, mit der wir nach Hau­se gehen wer­den. „Nein, nicht aus­ge­rech­net sie!“, rief die Dame des Hau­ses noch, aber man konn­te mich nicht mehr umstimmen.

Kei­ne Sekun­de lang frem­del­te Marie mit uns. Schon im Auto zeig­te sie das Ver­hal­ten, das ihr gan­zes Leben lang Aus­druck ihrer Zunei­gung sein wür­de: Sie leck­te mir die Nase ab.

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Marie 2001 (ein grö­ße­res Foto gibt es lei­der nicht)

Marie hol­ten wir, um der alten Jen­ny eine Gefähr­tin zu geben. Wir hoff­ten, dass die ein­sa­me Kat­ze dem jun­gen Neu­an­kömm­ling eine Art Mut­ter sein wird, dass sie sich gegen­sei­tig Gesell­schaft leis­ten kön­nen, wäh­rend sie tags­über allei­ne in der Woh­nung sind. Es klapp­te. Erst recht, als wir aus unter­schied­li­chen Grün­den noch ein­mal zwei Kater dazu beka­men, Har­ry und Bur­schi. Die Damen bil­de­ten eine enge Gemein­schaft gegen die wil­den Jungs.

Marie wur­de bald zur „Miez“, es pass­te ein­fach zu ihr, wie sie schüch­tern ab und zu auf­be­gehr­te, sich aber ansons­ten im Hin­ter­grund hielt. Frem­de Men­schen ließ sie kaum an sich ran; wenn Besuch kam, ver­steck­te sie sich im letz­ten Win­kel der Woh­nung, bis er wie­der weg war. Nur zwi­schen ihr und mir gab es ein enges Band. Sie war „mei­ne Miez“.

Als Marie zwei Jah­re alt war, starb Jen­ny. Auf ein­mal war es die klei­ne Kat­ze gegen die männ­li­che Über­macht. Es waren kei­ne schö­nen Jah­re für sie. Erst, als das Fin­del­kind Har­ry wie­der weg war, blüh­te sie auf.

MarieSie blüh­te rich­tig auf. In einem Zwei-Katzen-Haushalt bean­spruch­te sie mit Vehe­menz ihre Hälf­te der Auf­merk­sam­keit und bei zwei Men­schen war schließ­lich immer einer da, der sich um sie küm­mern konn­te. Sie war jetzt nicht mehr „mei­ne Miez“, leck­te auch Kath­rin die Nase ab. Ich freu­te mich über die­se Ent­wick­lung. Wenn wir abends auf dem Sofa lagen, da hat­te jeder von uns bei­den jeweils eine Kat­ze auf sei­nen Beinen.

In den letz­ten Mona­ten bau­te Marie merk­lich ab, sie ver­lor gut die Hälf­te ihres sowie­so schmäch­ti­gen Gewichts. Ihr chro­ni­scher Schnup­fen, der sie seit Jah­ren plag­te, wur­de jedes Mal schlim­mer. Zwei Mal sag­te sie der Tier­arzt schon tot, zwei Mal bewies sie uns mit aller Kraft das Gegen­teil. Uns war klar, dass wir nicht mehr viel Zeit gemein­sam ver­brin­gen kön­nen, aber wie will man erken­nen, wie viel Zeit genau noch blei­ben wird?

Marie schlief wohl fried­lich ein, wäh­rend wir uns auf Kre­ta die Son­ne auf den Bauch schei­nen lie­ßen. Ob wir in den Urlaub fah­ren soll­ten, frag­ten wir uns in den Wochen vor­her. Was, wenn aus­ge­rech­net dann …? Aber sie wirk­te so fit und es waren doch nur acht Tage. Am fünf­ten davon kam der schreck­li­che Anruf unse­rer Katzensitterin.

Marie beglei­te­te mich über fünf­zehn Jah­re, seit ich 21 Jah­re alt war. An den meis­ten Aben­den war­te­te sie vor der Bade­zim­mer­tür, damit wir noch ein­mal vor dem Schla­fen­ge­hen kuscheln kön­nen, damit sie mir noch ein­mal die Nase able­cken kann. Ges­tern Abend war sie nicht mehr da. Sie fehlt mir so.

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